Die vergessenen Raketenexperimente von Cuxhaven
Bilder und Beitrag von Harald Lutz

Zwischen 1945 und 1964 wurden im Großraum Cuxhaven zahlreiche Raketen gestartet.
Es waren dies nicht nur die drei A4-Raketen, welche Vertretern der alliierten Besatzungsmächten im Oktober 1945 unter der Bezeichnung Operation „Backfire“ vorgeführt wurden, sondern auch ca. 500 zivile Flugkörper, angefangen von kleinen Modellen zur Seerettung bis zu Höhenforschungsraketen mit über 100 Kilometer Gipfelhöhe, welche in den Jahren 1957 bis 1964 von der DAFRA, bzw. ihren Nachfolgeorganisationen der „Deutsche Raketengesellschaft e.V.“ und der „Herrmann-Oberth-Gesellschaft e.V.“ sowie der „Berthold-Seliger-Forschungs- und Entwicklungsgesellschaft mbH“ und einigen anderen Konstrukteuren entwickelt und gebaut wurden.

Die Operation „Backfire“

Als der 2. Weltkrieg zu ging, wurde von der britischen Militärangehörigen, Kommandantin Joan Bernhard, vorgeschlagen, mit erbeuteten A4-Raketen Demonstrationsflüge durchzuführen, bei denen die Startvorbereitung, Start und Flug der Raketen möglichst genau dokumentiert werden sollten.
Auf diese Weise , so argumentierten sie und ihre Vorgesetzten würde man in sehr kurzer Zeit wertvolle Erfahrungen im Umgang mit militärischen Großraketen sammeln können.
Die Idee fand Zustimmung beim Hauptquartier der alliierten Streitkräfte und sowohl der amerikanische General Eisenhower als auch das britische Kriegsministerium stimmten den Vorhaben zu.
Das Projekt erhielt den Namen „Operation Backfire“, Unternehmen Gegenschlag. Als Startgelände wählte man einen Platz in der Nähe von Arensch bei Cuxhaven, auf dem schon Kurt Debus als Ersatz für den im Februar 1945 aufgegebenen Prüfstand VII in Peenemünde eine neue Abschussstelle für die Erprobung von A4-Raketen errichten sollte, was aber wegen der fortschreitenden Kriegsereignisse nicht mehr möglich war.
So einfach war die Durchführung des Vorhabens aber auch nicht, denn keine der erbeuteten Raketen war in flugfähigen Zustand. Es mussten viele funktionswichtige Teile erst beschafft oder gar in den Herstellungsbetrieben, sofern sie nicht zerstört waren, neu angefertigt werden.
Auch musste eine noch funktionsfähige Fabrik für Flüssigsauerstoff gefunden werden, was im kriegszerstörten Deutschland keine leichte Aufgabe war: aber es konnten zwei derartige Werke ausfindig gemacht werden und zwar in Fassberg und in der Nähe von Braunschweig.
Der Transport dieser -183 Grad Celsius kalten Substanz erfolgte in noch vorhandenen Eisenbahnwagons bis zum Bahnhof Altenwalde und von dort mit speziellen LKWs zur Abschussrampe.
Am 1.10.1945 sollte in Arensch die erste A4 starten. Wegen eines Defekts im Zündsystem gelang es allerdings nicht an diesen Tag eine Rakete zu starten.
Am nächsten Tag wurde ein erneuter Startversuch durchgeführt, allerdings nicht mit der Rakete, welche am Vortag hätte starten sollen, sondern mit der ursprünglich für den 2. Flug vorgesehenen Rakete. Der Flug gelang. Die Rakete erreichte bei ihren Start, der an jenen Tag um 14.41 Uhr erfolgte eine Höhe von 69,4 km und eine Flugweite von 249,4 Kilometern.
Am 4.10.1945 wurde um 14.16 Uhr die ursprünglich für den 1.10.1945 vorgesehene Rakete gestartet. Allerdings fiel kurz nach dem Start der Motor aus und so flog jene Rakete nur 17,4 Kilometer hoch und 24 Kilometer weit.
Der dritte und letzte Start der Operation „Backfire“ fand am 14.10.1945 um 15.06 Uhr statt. Bei diesen Flug, welcher bei schlechten Wetter vor den Augen zahlreicher prominenter alliierter Wissenschaftler und Pressevertreter stattfand, flog die Rakete 64 Kilometer hoch und 233 Kilometer weit.

Übersichtskarte
Übersichtskarte mit der Schussrichtung und den Niedergangsorten der Raketen (aus dem offiziellen Abschlussreport der Operation „Backfire“ von Dieter K. Huzel)

Für den Start der Raketen wurde im Wernerwald neben dem Weg von Arensch nach Sahlenburg eine 12 Meter breite und 30 Meter lange Betonplattform errichtet.
Auf dieser Plattform wurde der Starttisch aufgestellt. Die zur Startvorbereitung nötigen Arbeiten wurden von auf LKWs montierten, klappbaren Gerüsten durchgeführt.
Kurz vor dem Start fuhren diese LKWs zum Rand der Startplattform und gaben so der Rakete die Flugbahn frei.
Südlich der Startplattform wurde eine Halle errichtet, in der, vom Wetter geschützt, Wartungsarbeiten an der stehenden Rakete durchgeführt werden konnten.
Für den Start wurde die Rakete mit einem LKW aus der Halle zum Startplatz transportiert.
60 Meter süd-südöstlich von der Startplattform wurden zwei Bunker für die Startkontrolle errichtet.
Weitere Beobachtungsstände für Militärangehörige und Pressevertreter befanden sich südlich des Wernerwaldes, ca. 340 Meter südwestlich der Startstelle.

Startgelände
Übersichtskarte des Startgeländes (aus dem offiziellen Abschlussreport der Operation „Backfire“ von Dieter K. Huzel)


Lage der Startstelle der Operation „Backfire“ in eine moderne topographische Landkarte eingetragen

Nach der Operation „Backfire“ wurden die hierfür errichteten Anlagen demontiert. Selbst die Betonplattform wurde entfernt, wobei man merkwürdigerweise vergaß die hierbei entstandene Grube zuzuschütten. Sie wurde später mit Birken aufgeforstet.

Bodenmulde
Ansicht der Bodenmulde (Aufnahme: 2001)

In dieser Grube findet man noch heute vereinzelt Betonbrocken, die von der einstigen Betonplattform stammten.

Betonbrocken
Betonbrocken in der Bodenmulde (Aufnahme: 2001)

An Hand dieser Brocken kann man schließen, dass die Stärke der Betondecke ca. 15 cm entsprach, also mit der Fahrbahndecke einer Autobahn vergleichbar war!

Die Kontrollbunker im Wernerwald wurden gesprengt. Allerdings schien dies zuerst nur ziemlich unvollkommen gelungen zu sein, denn nach einem Zeitungsbericht von 1974, in dem beschrieben wurde, wie Colonel Carter, der an der Operation „Backfire“ maßgeblich beteiligt war, nach den Überresten der Anlagen im Wernerwald suchte, schien er zu jenen Zeitpunkt noch ziemlich gut erhalten gewesen zu sein.

Kontrollbunker
Zustand des Kontrollbunkers 1974 (Quelle: Manfred Tegge)

Leider wurde er inzwischen fast vollständig beseitigt. Man findet heute nur noch einige Fundamentreste von ihn vor.

Überreste Kontrollbunker
Überreste des Kontrollbunkers (Zustand 2002)

In diesen Fundamentresten findet man ein Loch, welches wohl einmal der Ausgang eines Kabelschachtes war, der einmal zur Startstelle führte.

Ehemaliger Kabelschacht
Ehemaliger Kabelschacht? (Zustand 2002))

Karl Poggensee und die Neuanfänge der Raketenentwicklung in Hespenbusch

Nach der Operation „Backfire“ geschah in Deutschland zuerst einmal nichts in punkto Raketentechnik, denn zum einen hatte man in den kriegszerstörten Land weit wichtigere Dinge zu tun, als rückstoßbetriebene Flugkörper zu bauen und zum anderen hätten auch die alliierter Besatzungsmächte jedes derartige Vorhaben untersagt.
Aber trotzdem war das Interesse an der Raketentechnik in Deutschland nicht ganz verschwunden und schon 1952 begann Karl Poggensee, der im 2. Weltkrieg an der Heeresversuchsanstalt Peenemünde gearbeitet hatte, somit also reichlich Erfahrung im Raketenbau hatte, in Hespenbusch bei Großenkneten wieder mit Raketenversuchen, wofür er sogar auch die behördlichen Genehmigungen bekam.
Seine Flugkörper waren sehr primitive Eigenkonstruktionen aus Milchkannen, Papprollen, oder ähnlichen, welche nur wenige hundert Meter hoch flogen.
Aber ein Neuanfang war gemacht worden. Poggensee gründete auch einen Verein für Raketentechnik mit dem Namen DAFRA = „Deutsche Arbeitsgesellschaft für Raketenangelegenheiten“, welche sich von nun an um die weitere Raketenentwicklung kümmern sollte.

Trotz der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse gelang es Poggensee und den Mitgliedern der DAFRA schon bald Raketen zu bauen, die bis zu 6 km hoch fliegen konnten.
Da man allerdings plante, Raketen für noch größere Flughöhen zu bauen, musste ein neues Versuchsgelände her, denn für den Start stärkerer Raketen war das in Hespenbusch zur Verfügung stehende Areal viel zu klein

Die Neuanfänge der Raketenstarts im Großraum Cuxhaven

Der in Cuxhaven lebende Schiffbauingenieurs Herrmann Geveke, der ebenfalls auf dem Gebiet der Raketenforschung tätig war, vertrat schon ab 1951 die These, dass Cuxhaven ein idealer Standort für einen Raketenstartplatz sei: er führte hierbei als Argumente an, dass man von diesen Ort in nördliche und westliche Richtung freies Schussfeld habe, ein Umstand, von dem man schon im 2. Weltkrieg zur Erprobung der V1 (wenn dies auch keine Rakete war) und später bei der Operation „Backfire“ Gebrauch gemacht hatte.
Auf einer Tagung der DAFRA in Bremen schlug er Cuxhaven als Startplatz für den Start größerer Raketen vor. Natürlich war man auf dieser Tagung Gevekes Vorschlägen sehr zugeneigt, doch musste er noch den Stadtrat von Cuxhaven, wo er selbst Mitglied war, von diesen Vorhaben mit geschickten Argumenten überzeugen, was natürlich alles andere als einfach war.
1957 schließlich war es soweit: die DAFRA erhielt die Genehmigung, zu bestimmten Zeiten, welche in Kooperation mit dem Wasser- und Schiffahrtsamt und der Flugsicherungsbehörde festgelegt wurden, im Wattengebiet zwischen Berensch und Sahlenburg Raketen starten zu dürfen.
In einen halbverfallenen Beobachtungsbunker der Marine aus dem 2. Weltkrieg, der sich unmittelbar an der Nordseeküste zwischen Arensch und Sahlenburg befand, richtete man ein „Vereinsheim“ mit Startkontrollstand, Treibsatzlager und einer Werkstatt ein.
Von diesen Bunker wurden die meisten Starts der DAFRA und ihrer Nachfolgeorganisationen, welche alle von transportablen Abschussrampen aus durchgeführt wurden, überwacht.
(Im Unterschied zur Operation „Backfire“ wurden für die ab 1957 folgenden Raketenstarts keine ortsfesten Anlagen errichtet).
Der erste Starttag sollte am 23.8.1957 stattfinden. An diesen Tag wurde eine sogenannte Ölsprührakete, welche im Seenotfall durch das Versprühen eines Ölfilms das Meer beruhigen sollte und einige Versuchsraketen mit einen Startschub von bis zu 15 kN, welche Höhen von bis zu 4000 Metern erreichten, in der Nähe des Bauhofs von Arensch gestartet.
Doch schon bald sollten weitaus stärkere Raketen folgen: 1958 starteten mehrere Raketen des Wuppertaler Konstrukteurs Ernst Mohr. Diese Flugkörper entwickelten einen Startschub von 76500 Newton und beschleunigten eine Nutzlastspitze binnen zwei Sekunden auf dreifache Schallgeschwindigkeit. In einer Höhe von 1200 Metern wurde diese vom Raketenkörper abgetrennt und flog, da sie aerodynamisch sehr gut geformt war, bis in eine Gipfelhöhe von 50 Kilometern!
Die ersten drei Versuchen am 13.6.1958 mit dieser Raketen waren Fehlschläge: zwei Raketen explodierten kurz nach dem Start, weil die Brennkammer beim Verlassen des Startgestells aufgerissen wurde, die dritte Rakete geriet in Folge aerodynamischer Instabilitäten außer Kontrolle und wurde durch die enormen Kräfte, die im Überschallflug auf den Flugkörper einwirkten, zerrissen.
Am 14.9.1958 hingegen gelang es zwei Raketen von Ernst Mohr erfolgreich zu starten.

Technische Daten:

Durchmesser der Startrakete: 30 cm
Länge der Startrakete: 1,7 m
Startschub: 76,5 kN
Brennzeit: 2 s
Gipfelhöhe: 50 km
Nutzlast: 5 kg (für 50 km Gipfelhöhe)
Startmasse: 150 kg
Masse des Treibstoffs: 75 kg
Masse der Startrakete einschließlich Leitwerk: 60 kg

Masse des Freiflugkörpers: 15 kg
Maximaler Durchmesser des Freiflugkörpers: 5,6 cm
Länge des Freiflugkörpers: 125 cm

Die Rakete des Konstrukteurs Ernst Mohr (Quelle: Gedenkschrift zur 10. Jahrestagung der Deutschen Raketengesellschaft, in fotokopierter Form erhalten vom Deutschen Museum in München)

Zwischen 1958 und 1960 wurden von der „Deutschen Raketengesellschaft e.V.“, so hieß jetzt die DAFRA zahlreiche Versuche mit Post- und Versorgungsraketen durchgeführt. Die Oberpostdirektion Hamburg hat an Tagen, an denen Postraketen gestartet wurden, ein mobiles Postamt in Sahlenburg eingerichtet. Dort konnte man Briefe für den Raketentransport aufgeben. Nach ihren Raketenflug im Wattengebiet wurden sie wieder zum mobilen Postamt zurückgebracht, wo sie einen besonderen Stempel erhielten.
Heute sind diese Postsendungen begehrte Sammlerobjekte.
Doch verschwand keineswegs bei der Deutschen Raketengesellschaft das Interesse an der Entwicklung von Forschungsraketen: am 12.12.1960 erfolgte der Erststart der „Kumulus“. Diese 60 kg schwere Rakete hat eine maximale Flughöhe von 20 km. Sie landet nach vollbrachten Flug an einem Fallschirm und stand nach erneuter Befüllung mit Feststofftreibsatz für einen weiteren Einsatz zur Verfügung.
Bei diesen Flug sollte zum ersten Mal der Flug einer Rakete der „Deutschen Raketengesellschaft e.V.“ per Funk vermessen werden. Allerdings gelang dies nicht, weil die Batterien für die Stromversorgung des Senders in der Rakete durch die Kälte ausgefallen waren. Erst am 12.2.1961 gelang es die Flugbahn einer „Kumulus“ mit funktechnischen Mitteln zu vermessen.

Startvorbereitung
Startvorbereitung einer „Kumulus“-Rakete (Quelle: Gedenkschrift zur 10. Jahrestagung der Deutschen Raketengesellschaft, in fotokopierter Form erhalten vom Deutschen Museum in München)

Rakete

Technische Daten:

Durchmesser : 15 cm
Länge: 3 m
Startschub: 5 kN
Gipfelhöhe: 20 km
Nutzlast: 5 kg (für 20 km Gipfelhöhe)
Startmasse: 28 kg

„Kumulus“-Rakete im Herrmann-Oberth-Museum in Feucht (Foto: Verfasser)

Am 16.9.1961 wurden mit „Kumulus“-Raketen erstmals zwei Tiere befördert und zwar ein Molch und eine Flunder. Beide Tiere wurden während des Fluges gefilmt. Sie überlebten auch ihren Flug, wenn auch der Fisch schwer angeschlagen, da er sich in einen Plexiglasbehälter und nicht in einer Druckkabine befand.
Am gleichen Tag erfolgte auch der Erststart der Zweistufenraketen „Cirrus1“ und „Cirrus 2“. Die „Cirrus 1“ war eine 4,155 Meter lange Zweistufenrakete mit einen Startgewicht von 60 kg. Ihre beiden Stufen entwickelten je 5700 N Schub. Sie konnte eine Gipfelhöhe von 35 Kilometern erreichen.
Beide Stufen landeten - wie bei der „Kumulus“ - an einen Fallschirm und konnten ebenfalls wiederverwendet werden.
Die „Cirrus 2“ besaß eine wesentlich stärkere Startstufe, welche 17700 N Schub entwickelte.
Sie erreichte auch deshalb eine Gipfelhöhe von bis zu 50 Kilometern.
Allerdings gelang am 16.9.1961 nur der Start einer „Cirrus 1“ und einer „Cirrus 2“. Bei einer zweiten „Cirrus 2“, die auch am gleichen Tag hätte starten sollen, zündete nicht die zweite Stufe, weil ein Zündkabel falsch angeschlossen war.

Start
Start einer „Cirrus“-Rakete (Quelle: Informationsblatt der Deutschen Raketengesellschaft, in fotokopierter Form erhalten vom Deutschen Museum in München)

Technische Daten der „Cirrus 1“

Durchmesser : 15 cm
Länge: 4,155 m
Startschub: 5 kN
Gipfelhöhe: 50 km
Nutzlast: 5 kg (für 35 km Gipfelhöhe)
Startmasse: 60 kg

Technische Daten der „Cirrus 2“

Durchmesser : 15 cm
Länge: 4,155 m
Startschub: 17,7 kN
Gipfelhöhe: 50 km
Nutzlast: 5 kg (für 50 km Gipfelhöhe)
Startmasse: 60 kg
„Cirrus“-Rakete im Herrmann-Oberth-Museum in Feucht (Foto: Verfasser)

Es soll an dieser Stelle auch nicht unerwähnt bleiben, dass alle Raketen der „Deutschen Raketengesellschaft e.V.“ von den Mitgliedern der Gesellschaft in ihrer Freizeit ehrenamtlich gebaut wurden. Allerdings wurden sie von der einschlägigen Industrie finanziell und materiell gut unterstützt und sie hatten - was heute in Deutschland kaum vorstellbar ist - auch den nötigen Segen der Behörden!

Berthold Seliger und seine Raketen

1960 kam der Raketenbauer Berthold Seliger zur Deutschen Raketengesellschaft. Berthold Seliger wurde 1928 in Dauba im Sudetenland geboren und hat sich schon seit seiner frühesten Jugend für Physik interessiert. Mit 14 Jahren bekam er ein Stipendium in der Ingenieursschule von Mittweida in Sachsen. Nach Abschluß seines Studiums wurde er Assistent des berühmten Theoretikers Professor Dr. Eugen Sänger.
1956 siedelte er nach Orsoy am Niederrhein, wo er eine Mopedwerkstatt aufmachte.
Seine ersten beiden Raketen, die er als Mitglied der Deutschen Raketengesellschaft konstruierte waren zwei 3 Meter lange Postraketen vom Typ „Kumulus“, welche am 25.6.1961 von Sahlenburg zu einen 15 km entfernten Zielpunkt im Watt bei Schärhorn gestartet wurden.
Doch lag sein eigentliches Interesse in der Entwicklung von Raketen zur Erforschung der Hochatmosphäre: 1961 gründete er eine eigene Firma, die „Berthold-Seliger-Forschungs- und Entwicklungsgesellschaft mbH“ mit Sitz in Orsoy am Niederrhein, welche für die Entwicklung und den Bau der entsprechenden Versuchsgeräte zuständig war. Am 19.11.1962 startete die „Berthold-Seliger-Forschungs- und Entwicklungsgesellschaft mbH“ drei mit Messköpfen ausgerüstete neuentwickelte, einstufige Raketen, welche durch die Verwendung eines verbesserten Feststofftreibstoffes mehr als doppelt so hoch fliegen konnten als das Vorläufermodell „Kumulus“.
Diese Raketen wurden von einer mobilen Abschussrampe im Wattengebiet vor Arensch gestartet, wobei, wie bei den späteren Versuchen auch, die Bundeswehr wichtige Hilfsfunktionen übernahm. Sie stellte nicht nur einen gepanzerten Wagen als Kommandostand zur Verfügung, sondern war auch für die Absicherung des Luft- und Seegebietes und für die Bergung des wiederverwendbaren Flugkörpers verantwortlich.
Die Funksignale der Flugkörper wurden erstmals auch von der Bochumer Sternwarte empfangen.

Technische Daten

Startschub: 49 kN
Länge: 3,4 m
Gipfelhöhe: 52 km

Start einer einstufigen Rakete der „Berthold-Seliger-Forschungs- und Entwicklungsgesellschaft mbH“ (Quelle: Broschüre der „Berthold-Seliger-Forschungs- und Entwicklungsgesellschaft“ erhalten in fotokopierter Form vom Deutschen Museum in München)

Die nächste Aktion der „Berthold-Seliger-Forschungs- und Entwicklungsgesellschaft mbH“ ließ nicht lange auf sich warten: am 7.2.1963 startete Berthold Seliger wieder drei seiner Raketen, darunter auch erstmals eine von seiner Firma entwickelte Zweistufenrakete. Wie bei den Versuchen im November 1962 wurden auch diesmal die Flugbahnen der Raketen u.a. auch von der Bochumer Sternwarte mit radiotechnischen Mitteln gründlich vermessen. Während die beiden Einstufenraketen Höhen von bis zu 52 km erreichten, schaffte die Zweistufenrakete eine Gipfelhöhe von 80 Kilometern.
Doch Berthold Seliger war damit noch nicht zufrieden. Seine Gesellschaft arbeitete schon an einer Dreistufenrakete mit einer Gipfelhöhe von 150 Kilometern, welche nicht lange auf sich warten lassen sollte:
Am 2.5.1963 startete er erstmals diese Rakete, wenn auch noch nicht mit voller Treibladung.
Zuerst führte er einen Flug mit einer seiner Einstufenraketen durch, um unter anderen die Windverhältnisse in der unteren Atmosphäre, welche zur Bestimmung der Flugbahn der Dreistufenrakete unerlässlich waren, zu sondieren.
Nachdem dieser Flugkörper aus 50 km Höhe an einen Fallschirm hängend im Wernerwald niederging, erfolgte kurz nach 16 Uhr der Start der Dreistufenrakete. Alles verlief nach Plan, der Flugkörper erreichte eine Höhe von über 100 Kilometern. Auch diesmal konnten seine Signale von der Sternwarte in Bochum empfangen werden.
Zumindest die dritte Stufe mit den Messgeräten konnte nach dem Flug geborgen werden.

Technische Daten

Startschub: 49 kN
Länge: 12,8 m
Gipfelhöhe: 140 km
Start einer Dreistufenrakete der „Berthold-Seliger-Forschungs- und Entwicklungsgesellschaft mbH“
(Quelle: Broschüre der „Berthold-Seliger-Forschungs- und Entwicklungsgesellschaft“ erhalten in fotokopierter Form vom Deutschen Museum in München))

Trotz dieses Erfolges kamen zum ersten Mal auch warnende Stimmen von Seiten des Schiffahrtsamtes auf, denn Raketen dieses Kalibers, können für die Schiffahrt sehr gefährlich werden. Zwar wurden die Seefahrer per Funk davor gewarnt, die Niedergangsgebiete der Raketen zu befahren, doch wer konnte garantieren, dass die Raketen nicht außer Kontrolle geraten und woanders niedergehen?
Nicht desto trotz gehen die Versuche weiter. Bis jetzt waren alle Raketenexperimente im Cuxhavener Wattengebiet seit 1957 rein ziviler Natur und es gab auch noch keinen Unfall...

Das Ende

Doch leider sollte es im Cuxhavener Wattengebiet nicht nur bei zivilen Experimenten bleiben: am 5.12.1963 gab die „Luftrüstungs-AG“ ein Zusammenschluß mehrerer Firmen der deutschen Rüstungsindustrie eine Vorführung vor ausländischen Militärvertretern aus Nicht-NATO Staaten im Wattengebiet vor Cuxhaven. Für diese Veranstaltung wurden Flughöhen von 30 Kilometern genehmigt, wenngleich die vorgeführten Raketensysteme durchaus Höhen von bis zu 140 Kilometern erreichen konnten.
Obwohl deutsche Regierungsvertreter die Vorführungen im Cuxhavener Wattengebiet als „uninteressant“ abtaten und auch deshalb viele der angekündigten Militärbeobachter absagten, waren ausländische Protestaktionen, insbesondere von Seiten der damaligen Sowjetunion unvermeidbar, denn in Deutschland hätten nach alliierten Recht nur Raketen gebaut werden dürfen mit einer Reichweite von bis zu 30 Kilometern.
Man ließ die Versuche in Cuxhaven nur deshalb zu, weil sie bis dato frei von militärischen Aspekten waren!
Durch diese Aktion von Berthold Seliger war man den Raketenexperimenten im Cuxhavener Wattengebiet von offizieller Seite nicht mehr so zugeneigt wie zuvor. Trotzdem gingen sie 1964 zuerst einmal weiter. So wurden am 22.3.1964 zehn kleinere Versorgungsraketen gestartet und eine Rakete mit Schwenkflügeln, die im Gleitflug landete, erstmals erprobt.
Das dicke Ende kam am 6.6.1964. Die „Herrmann-Oberth-Gesellschaft“, so hieß die „Deutsche Raketengesellschaft“ jetzt, wollte wieder eine Aktion mit Postraketen durchführen, wie sie sie schon öfters durchgeführt hat. Doch erhielt sie unerwarteter weise keine der nötigen Genehmigungen: warum nicht?
Bei einer Raketenvorführung von Gerhard Zucker in Braunlage im Harz hatte es einen Unfall gegeben, bei der ein Junge getötet wurde. Obwohl Gerhard Zucker nie Mitglied der „Herrmann-Oberth-Gesellschaft e.V.“ oder einer ihrer Vorläuferorganisationen war und auch nicht mit diesen je kooperierte und die „Herrmann-Oberth-Gesellschaft e.V.“ bei ihren Versicherungen ein hohes Ansehen besaß, weil es nie einen Unfall gab, war es nicht möglich, die Behörden zu überzeugen: man untersagte - obwohl der Unfall in Braunlage auf dem Boden passiert war - mit Argumenten des Luftrechts alle Raketenversuche bei denen Flughöhen von über 100 Metern erreicht werden. Versuche mit geringeren Flughöhen waren weiterhin erlaubt, doch solche Experimente waren für eine Gesellschaft, welche Raketen baute, die bis in die Hochatmosphäre vorstoßen konnten, nicht mehr interessant.
Man tröstete die Vertreter der „Herrmann-Oberth-Gesellschaft e.V.“, dass der Startbetrieb wieder aufgenommen werden könnte, sobald neue Sicherheitsbestimmungen ausgearbeitet worden sind. Doch dies ist bis heute nicht geschehen...

Quellen zu den Raketenversuchen in Hespenbusch und Cuxhaven:

Diverse Informationsmaterialien des Deutschen Museums in München und des Herrmann-Oberth-Museum in Feucht
Aufsatz von Frau Sonja Wolff „Cuxhaven - Im Zeitalter der Raketen“ und diverse Presseartikel aus der „Cuxhavener Zeitung“ zugesandt vom Stadtarchiv Cuxhaven
Archiv der Gemeinde Großenkneten
http://forum.modellraketen.net/showthread.php?s=&threadid=455
http://www.astronautix.com/sites/cuxhaven.htm

Quellen zur Operation „Backfire“:

Raketenspuren von Volkhard Bode und Gerhard Kaiser
Geschichte der Raumfahrt von Werner Buedeler
http://www.v2rocket.com/start/makeup/backfire.html
http://home.t-online.de/home/m.tegge/relikte/backfire/index.htm#ab1945
http://forum.modellraketen.net/showthread.php?s=&threadid=546
http://www.modellraketen-forum.de/board/messages/23/3767.html

Weitere Informationen - insbesondere zu den Raketenversuchen der Jahre 1957 bis 1964 - nimmt der Autor gerne entgegen.

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